Homepage

Bundessozialgericht zu SGB II – Leistungen für EU-Bürger und bei Familienzusammenführung

Das Bundessozialgericht hat in zwei Urteilen vom 30.01.2013 das Jobcenter zur Zahlung von SGB II – Leistungen an eine Unionsbürgerin und an einen Drittstaater, der zu seiner deutschen Ehefrau im Wege des Ehegattennachzuges eingereist war, verpflichtet.

1. In der ersten Entscheidung ging es um den höchst umstrittenen Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II, wonach den Jobcentern zufolge auch Unionsbürger keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Hier hat das Bundessozialgericht erneut weder die grundsätzlichen Rechtsfragen entschieden, noch die Sache dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt, sondern stattdessen eine andere Lösung gefunden. Es stehe nach Auffassung des BSG nicht fest, dass sich die damals schwangere Klägerin allein zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe. Vielmehr bestehe aufgrund der Vorwirkungen der Geburt ihres Kindes ein anderer Aufenthaltszweck als der der Arbeitsuche. Aus § 11 Abs 1 Satz 5 FreizügG/EU iVm der Auffangregelung des § 7 Abs 1 Satz 3 AufenthaltsG können sich in begründeten Fällen Aufenthaltserlaubnisse auch für nicht ausdrücklich erfasste Aufenthaltszwecke ergeben. Dies betrifft insbesondere Aufenthaltsrechte aus dem Zusammenleben von Partnern mit einem gemeinsamen Kind und bevorstehenden Familiengründungen. Der zu erwartenden Geburt des Kindes, das einen aus Art 6 GG geschützten Anspruch auf Ermöglichung und Aufrechterhaltung eines familiären Bezugs zu beiden Elternteilen von Geburt an hat, kommen aufenthaltsrechtliche Vor- und Schutzwirkungen für das Aufenthaltsrecht seiner Eltern zu. Es wäre der bereits seit Januar 2010 schwangeren Klägerin, die bis zur SGB II-Antragstellung keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten hat, nicht zumutbar gewesen, sich von dem Vater des Kindes zu trennen und das Bundesgebiet zu verlassen. Es bestand daher bereits vor der Anerkennung der Vaterschaft durch den Lebensgefährten der Klägerin am 20.7.2010 und SGB II-Antragstellung ein von der Arbeitsuche unabhängiges Aufenthaltsrecht.

SG Stuttgart – S 11 AS 4985/10 –
LSG Baden-Württemberg – L 3 AS 1477/11 –
Bundessozialgericht – B 4 AS 54/12 R –

Die Entscheidung ist zu begrüßen, weil sie für Schwangere und werdende Familien einen weitreichenden Schutz festschreibt, der über die übliche Praxis der Ausländerbehörden hinausgeht. EU-Bürger, die vom Jobcenter keine Leistungen bekommen, müssen aber weiterhin mit Widerspruch und Eilanträgen ihren Anspruch einklagen, bis die Frage der Un-Vereinbarkeit des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II mit Europarecht und Völkerrecht geklärt ist.

2.
In der zweiten Entscheidung ging es um einen Kläger, der zwecks Familienzusammenführung zu seinem deutschen Ehepartner gezogen war und der nach Ansicht des unterlegenen Jobcenters nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen war (Ausschluss in den ersten drei Monaten nach Einreise). Dieser Ausschlussgrund greift nach dem Urteil des Bundessotialgerichts nicht in einer Fallkonstellation wie der hier vorliegenden. Zwar sei der Wortlaut des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB II nicht eindeutig, es ergebe sich aber aus der Auslegung des Gesetzes unter Berücksichtigung seiner Entstehungsgeschichte, seiner Systematik sowie dem Sinn und Zweck der Regelung, dass der Kläger grundsätzlich nicht von Hartz IV – Leistungen ausgeschlossen werden könne. Das Gesetz in der streitigen Fassung sei eine Umsetzung u.a. der Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG) und betreffe die Leistungsberechtigung von Unionsbürgern während der ihnen durch die Richtlinie zugestandenen drei Monate voraussetzungslosen Aufenthalts in einem EU-Staat. Damit sollte aber nicht auch die Leistungsberechtigung von Drittstaatsangehörigen weiter als nach bisherigem Recht eingeschränkt werden.

SG Köln – S 20 AS 3306/10 –
LSG Nordrhein-Westfalen – L 19 AS 383/11 –
Bundessozialgericht – B 4 AS 37/12 R –

Das Urteil beendet die fragwürdige Praxis vieler Jobcenter, beim Familiennachzug zu deutschen Familienangehörigen durch eine sehr weitgehende Gesetzesauslegung Leistungen zu versagen. Die Entscheidung ist ebenso anwendbar auf Fälle der Familienzusammenführung zu anerkannten Flüchtlingen mit Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG und anderen Drittstaatern, die Deutschen rechtlich gleichgestellt sind, etwa wenn minderjährige Kinder nach Anerkennung der Eltern als Flüchtlinge nach der GFK nach Deutschland nachkommen. Falls ein Jobcenter hier weiterhin Leistungen ablehnt, sollte mit Widerspruch und EIlantrag dagegen vorgegangen werden.